Ratgeber Pyramidenschrift/ Reliefschrift/ Profilschrift
Vergleich der Lesegeschwindigkeit und andere Aspekte:
Wie umfangreich ist sinnvoll? Wer profitiert und wen behindert sie? Wie schnell lässt sich Pyramidenschrift im Vergleich zur Brailleschrift lesen? Dieser Frage sind wir mit blinden und sehbehinderten Teilnehmer:innen in eigenen Studien nachgegangen.
Was ist Pyramidenschrift?
Pyramidenschrift, auch als Reliefschrift oder Profilschrift bekannt (obwohl es nicht ganz das Gleiche ist), ist eine Schriftdarstellung, bei der die lateinischen Buchstaben als erhabene Konturen fühlbar gemacht werden. Anders als die Brailleschrift, die auf einer völlig eigenständigen systematischen Punktmuster-Basis beruht, besteht die Pyramidenschrift aus lateinischen Buchstabenformen und arabischen Ziffern, die auch Sehende nutzen. Die Idee ist, späterblindeten Menschen das Ertasten von ihnen bekannten Buchstabenformen zu ermöglichen. Diese Grundidee wurde bereits vor über 200 Jahren, noch vor dem großen Auftritt von Louis Braille entwickelt.
Für Louis Braille und andere blinde Menschen zu dieser Zeit, war die Reliefschrift die einzige Möglichkeit Verschriftlichtes zu lesen. Der Grund, warum Louis Braille aber so dringend nach einer Verbesserung suchte (und diese mit der „Punktschrift“ erfand) war, dass die Reliefs der lateinischen Buchstaben so mühsam und schlecht lesbar waren. Erschwerend kam hinzu, dass damals die gemischte Groß- und Kleinschreibung angewandt wurde.
Wesentliche Barriere: Die Lesegeschwindigkeit
Das Dechiffrieren der erhabenen Buchstaben war damals eine Quälerei, die zu der wahrscheinlich wichtigsten Erfindung für blinde Menschen weltweit führte: Die Punktschrift nach Louis Braille.
Der Frage der Lesbarkeit von Reliefschrift wollten wir aus heutiger Sicht mit moderner Pyramidenschrift (die nur noch aus Großbuchstaben / Versalien gesetzt wird) noch einmal nachgehen. Unsere Studien mit blinden Teilnehmer:innen (2020 bis 2022, Steffen Zimmermann) liefern hierzu aufschlussreiche Zahlen:
Um ein Wort mit 12 Buchstaben in Pyramidenschrift zu entschlüsseln, benötigen die blinden Leser:innen im Schnitt 30 Sekunden. Im Vergleich dazu lesen blinde Anwender:innen in der selben Zeit 30 bis 75 Worte in Brailleschrift (abhängig von der Übung).
In 60 Sekunden liest man durchschnittlich
- ca. 2-3 Worte Pyramidenschrift (von Blinden gelesen)
- ca. 60-150 Worte Brailleschrift (von Blinden gelesen)
- ca. 150-300 Worte Schwarzschrift (von Sehenden gelesen)
Praxisbeispiel:
Ein Etagenplan an/in einem Aufzug mit 10 Worten untereinander dauert
- ca. 4 bis 5 Minuten in Pyramidenschrift (von Blinden gelesen)
- ca. 10 Sekunden in Brailleschrift (von Blinden gelesen)
- ca. 5 Sekunden in Schwarzschrift (von Sehenden gelesen)
Fazit: Geübte Brailleleser:innen liegen also nahe an der Lesegeschwindigkeit von Sehenden. Pyramidenschrift zu nutzen ist dagegen nicht mit Lesen zu beschreiben, sondern eher mit Entziffern.
Warum diese Unterschiede?
Der Hauptgrund für den Unterschied liegt in der Art der Wahrnehmung:
- Schwarzschrift wird mit den Augen als Wort oder sogar Wortgruppe erfasst. Nur selten als Folge einzeln zu erkennender Buchstaben.
- Brailleschrift basiert auf unterscheidbaren Punktmustern, die taktil mit der Fingerkuppe eindeutig und schnell erfasst werden können. Die Punktmuster pro Buchstabe werden „als Ganzes“ erkannt. Geübte Finger “scannen” die Punktreihen in einem kontinuierlichen Bewegungsfluss – ähnlich wie Augen beim Lesen von Schwarzschrift entsteht durch Übung auch eine Mustererkennung für Buchstabengruppen oder Worte.
- Pyramidenschrift erfordert hingegen das Abtasten der Konturen jedes einzelnen Zeichens. Um die Form eines Buchstabens zu erkennen, müssen die Finger die gesamte Form erforschen. Das dauert wesentlich länger. Eine Beschleunigung durch Übung ist nur in geringem Maße möglich.
Was bedeutet das für die Praxis?
Der erhebliche Zeitaufwand für das Entziffern der Pyramidenschrift hat praktische Konsequenzen für die Angebote:
- Wenig Worte – keine Sätze!
Pyramidenschrift eignet sich nur für extrem kurze Texte, wie zum Beispiel ein einzelnes Wort oder eine Zahl. Schon ein ganzer Satz ist zu viel, da der Zeitbedarf unverhältnismäßig hoch wird. - Orientierungspläne – eine Geduldsprobe
Wenn ein Orientierungsplan mit 20 Begriffen nur in Pyramidenschrift beschriftet wäre, müsste eine blinde Person jeden Begriff einzeln erforschen. Geht man davon aus, dass das Erfassen von 12 Buchstaben ca. 30 Sekunden dauert, würde es für 20 Begriffe um 8 Minuten kosten. Hinzu kommt der Zeitaufwand, die eigentliche Grafik bzw. den Plan zu analysieren, was zusätzliches Abtasten mit Verstehen erfordert. Oft wird daher schon nach kurzer Zeit aufgegeben, der Plan ist damit am Ziel vorbei. - Kurze Titel statt Beschreibungen
Auch bei Exponaten in Museen ist es unrealistisch, Texte in Pyramidenschrift anzubringen. Besucher:innen würden viel zu lange brauchen, um Beschreibungen zu erfassen. Daher sollte nur ein kurzer Titel in Pyramidenschrift realisiert werden – also der Name des Exponats oder eine Kurzbezeichnung. Für weiterführende Informationen sollte eine digitale Lösung (wie QR-Codes) für eine Audiodeskription angeboten werden. -
Und auch der Sehbehinderten wegen: Auch sehende Menschen – insbesondere sehbehinderte – haben Probleme mit der Lesbarkeit von Texten in Pyramidenschrift, da diese in Versalien (Großbuchstaben) gesetzt wird. Versalschreibung mag “prägnant” wirken, ist aber in puncto Lesefluss ein deutlicher Nachteil (siehe unten).
Empfehlung: In den meisten Fällen sollte zusätzlich Audiodeskription angestrebt werden. Die Audiodeskription schafft zusätzliche Orientierungshilfe im Plan bzw. der Grafik. Pyramidenschrift sollte an jedem Ort so reduziert sein (2 bis 3 Worte), dass max. ein bis zwei Minuten damit verbracht werden muss.
Faktencheck: Wer kann eigentlich Braille lesen?
Ein weit verbreiteter Mythos lautet, dass blinde Menschen kaum noch Braille lesen. Das ist schlicht falsch.
- Jede blinde Person, die blind die Schule besucht hat, hat dort selbstverständlich Lesen und Schreiben in Brailleschrift gelernt.
Allerdings gibt es Unterschiede zu Menschen, die später im Leben erblinden:
- Menschen, die in einem mittleren Lebensalter erblinden, lernen Braille schwerer und langsamer. Das hängt mit der Lernfähigkeit und der Tastsensibilität zusammen, die im Alter nachlassen kann.
- Wer im höheren Alter erblindet, erlernt Braille in der Regel nur noch selten. Hier sind alternative Unterstützungssysteme notwendig.
Eine neue Barriere: Warum ist Pyramidenschrift für Sehende und Menschen mit Sehschwäche problematisch?
Pyramidenschrift mag als “inklusive Lösung” erscheinen, weil sie Schwarzschrift taktil lesbar macht und auch von sehenden Menschen gelesen werden kann. Doch auf der anderen Seite schafft sie neue Barrieren für die wiederum inklusive Lösungen nötig sind:
- Pyramidenschrift wird in Versalien (Großbuchstaben) dargestellt. Zahlreiche Studien zeigen, dass Texte in Versalien schlecht lesbar sind – selbst für gut Sehende. Großbuchstaben entbehren durch ihre Gleichförmigkeit der individuell ausgeformten Kontur, weil die spezifischen Ober- und Unterlängen von Kleinbuchstaben fehlen.
- Für sehbehinderte Menschen wird das zum Problem, da sie auf klar unterscheidbare Buchstabenformen angewiesen sind.
- Auch gut sehende Menschen lesen Texte in gemischter Schreibweise, also aus Groß- und Kleinbuchstaben, deutlich besser, da die Worte eine “unverwechselbare Silhouette” haben.
- Die Studienergebnisse zeigen deutlich, dass die Pyramidenschrift nicht als Alternative zur Brailleschrift infrage kommt.
- Die Studienergebnisse zeigen auch, dass die Pyramidenschrift nicht als Alternative zur gemischten Schreibweise infrage kommt.
Fazit und Empfehlung:
Gemischte Schreibweise der Schwarzschrift plus Braille in gleicher Ausführlichkeit ist immer notwendig. Weiterhin bedarf es einfach zugänglicher Audiodeskription. Zur Orientierung kommen ausgewählte Einzelworte in Pyramidenschrift dazu.
Hinsichtlich brauchbarer Geschwindigkeit bleibt Schwarzschrift und Braille unerreicht. Die Pyramidenschrift findet ihre Nische dort, wo sehende und blinde Menschen gleichermaßen knappe Informationen benötigen. Brailleschrift ist unverzichtbar – nicht nur im Alltag, sondern auch in der Bildung und der beruflichen Teilhabe.
Audio-basierte Lösungen sind niederschwellig und mit zunehmendem Alter wichtiger. Audio-Anleitungen, Audiodeskriptionen und Sprachsysteme ermöglichen den Zugang zu Informationen, die sie über das haptische Lesen nicht oder nicht mehr effizient erfassen können.