Ab dem 28. Juni 2025 tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) vollständig in Kraft. Vielen ist nicht bewusst: Das Gesetz betrifft nicht nur Webseiten und digitale Dienste, sondern auch ganz konkret Produkte und Dienstleistungen.
Für Anbieter bedeutet das: Sie müssen dafür sorgen, dass ihre Angebote von Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt genutzt werden können. (mehr …)
Als Experte für Inklusion und Barrierefreiheit durfte ich an einem wegweisenden Leuchtturmprojekt in der Hamburger HafenCity mitwirken. Im 18-geschossigen Präventionszentrum der Berufsgenossenschaften BGW und VBG verschmelzen modernste Architektur und konsequent inklusives Design zu einer besseren Form der Gebäudeerschließung.
Mein Beitrag konzentrierte sich auf die Beratung der Akteure bei der Planung und dem Design hinsichtlich funktionaler und ästhetischer Barrierefreiheit. Dazu gehörte auch die Weiterentwicklung der Hausschrift Meta durch einen neuen Schriftschnitt „DGUV Meta taktil“ – eine Pyramidenschrift, die in der Beschilderung taktil erfassbar ist. Darüber hinaus habe ich das Orientierungs- und Bodenleitsystem mitgestaltet, das sich wie ein einladendes Band für alle Besucher:innen durch das Gebäude zieht. Durch die Kombination der diversen Elemente ermöglichen wir allen Menschen eine selbstständige und intuitive Orientierung im Gebäude.
Statt isolierter Speziallösungen oder gar nachträglicher Korrekturen und Erweiterungen, haben wir von Anfang an ein Gebäudedesign für alle Menschen geschaffen. Denn echte Inklusion bedeutet, dass wir auch alle Räume autonom erfassen und nutzen können.
Am 23. März 2024 wurde das Kölnische Stadtmuseum im Zentrum Kölns in seinen neuen Ausstellungsräumen (Haus Sauer) eröffnet. Es ist, meines Erachtens nach, das Museum mit der inklusivsten Ausstellung Deutschlands und setzt damit neue Maßstäbe. Durch ein fragloses Selbstverständnis von inklusiver Ausstellungskonzeption liegt die Latte um mehrere Stufen höher.
„Zwar kann man inzwischen als State of the Art bezeichnen, dass Museen pro Themengebiet oder Raum eine sogenannte inklusive Station anbieten. Genau genommen ist diese Herangehensweise aber alles andere als inklusiv, da sie auf exklusiven Wegen zu exklusiven Stationen exklusive Inhalte zur Verfügung stellt. Diese verfolgen meist nicht einmal das gleiche Vermittlungsziel wie der Rest der Ausstellung, geschweige denn, dass sie dies erreichen.“
Steffen Zimmermann
Das Kölnische Stadtsiegel in taktile Form umgearbeitet.
Im Vordergrund der Canesitter +G (Blindenstockhalter und Gehstockhalter) Braillebeschriftung und Pyramidenschrift im C-Text
Etagenpläne zur Orientierung wurden mit optischen und taktilen Merkmalen einfach erfassbar gestaltet und produziert.
Beratung und Planung für das visuelle und taktile Bodenleitsystem im Kölnischen Stadtmuseum
Vorbereitung und Beratung
Hier, im Kölnischen Stadtmuseum sind wir einen grundsätzlicheren Weg gegangen. Dieser ist entscheidend für die hohe ästhetisch inklusive Qualität. Meine Beratungsleistung zu allen Inklusionsfragen wurde sehr früh in Anspruch genommen. Bereits in der Konzeption und in enger Zusammenarbeit mit den Kuratoren und Szenografen haben wir die gesamte Liste der Exponate aus dem inklusiven Blickwinkel (Also »Wie machen wir es besser für alle Besuchenden?«) betrachtet und besprochen, Möglichkeiten spontan eruiert, wie und ob das jeweilige Objekt inklusiv dargestellt werden könnte – und dann nach diesen Maßstäben vorläufig ausgewählt.
So sind viele Exponat raus der Vitrine gekommen, andere ersetzt, hinzugekauft, als Repliken erstellt oder gedruckt worden, um sie frei und offen zugänglich zu machen. Wir haben entschieden, welche Grafiken didaktisch zielführend umsetzbar für alle sind, welche Texte und Objekte und welche Fotos und Gemälde. Es war weniger ein „Was heben wir hervor?“ sondern vielmehr „Worauf müssen wir leider verzichten?“.
Inklusive Ausführungsleistung
Nachdem die finale Entscheidung getroffen war, war es auch meine Aufgabe gemeinsam mit den Gestaltern von neo.studio, die blindendidaktische Gestaltung der Objekte zu entwickeln und von allen ausgewählten Objekten und Grafiken eine taktile Ebene und Beschriftung (auch in Pyramidenschrift und Braille) zu erstellen und schließlich mit meinem Druckereipartner zu produzieren.
Außerdem habe ich ein stringentes und intuitiv nutzbares taktiles Bodenleitsystem entwickelt, das sich auch ästhetisch hervorragend einfügt. Die Audios und Videos sind selbstverständlich mit dem Leitsystem und Zusatzinformationen abgestimmt.Der Kassentresen ist mit einer induktiven Höranlage ausgestattet. Der MultiMediaGuide bietet natürlich auch Videos in Deutscher Gebärdensprache. Die Beschilderung istdiskriminierungsfrei. Die schwellenlose Zugänglichkeit der gesamten Ausstellung ist gewährleistet.
Aufwändiges Schaubild, ausgeführt mit taktiler Grafik und Braillebeschriftung
Das Exponat wurde in Handarbeit mit einem taktilen Blümchenmuster ausgearbeitet und mit Braillebeschriftung versehen
Der Karnevalsorden wurde in vergrößerter Form als taktile Grafik umgesetzt.
An der Vitrine wurde eine grafische taktile Umsetzung platziert
Faximile, erweitert mit erhabener Schrift und Blindenschrift, auf dem Tisch
C-Text in Blindenschrift und Pyramidenschrift an Hands-On Station
Angebote für blinde Besucher:innen
Für blinde Menschen gibt es im neuen Museum besonders viele Möglichkeiten, die Stadtgeschichte zu erleben. Die Bodenleitlinien leiten schon vom Bürgersteig zur Eingangstür, zur Kasse und zur Garderobe. Dann durch alle Ausstellungsbereiche und natürlich zu den sanitären Einrichtungen. Auf allen Stockwerken finden sich zur Orientierung taktile Übersichtspläne. Die wichtigsten Texte in jedem Ausstellungsbereich sind zusätzlich in Brailleschrift ausgeführt, auch Grafiken sind teilweise taktil erfahrbar. Bei vielen Exponaten gilt explizit: „Anfassen erlaubt!“. Über den MultiMediaGuide ist zudem eine speziell auf Menschen mit Sehbehinderungen abgestimmte Führung abrufbar. Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung, die einen Assistenzhund haben, dürfen diesen mit ins Museum bringen.
„Die Zusammenarbeit mit den Szenografen und Ausstellungsdesignern neo.studio Berlin und den Kuratoren Stefan Lewejohann und Sascha Pries war von Anfang an auf Augenhöhe und dem gemeinsamen Wunsch nach einem barrierefreien Ort für alle geprägt. So entstand in zwei Jahren ein für mich wunderbar umfangreiches Projekt. Von mir wurden neben der Inklusionsberatung und dem Bodenleitsystem rund 166 (!) Objekte hergestellt – alle taktil – vom Hinweistäfelchen über Pläne, Grafiken und Tafeln bis zum Exponat. Das ist ungewöhnlich viel auf 700 Quadratmetern mit insgesamt 650 Objekten.“
Steffen Zimmermann
Duplikat des Originals ausgeführt mit taktiler Gravur und mit Braillebeschriftung
Beratung und Planung für das visuelle und taktile Bodenleitsystem im Kölnischen Stadtmuseum
Nachbildung des Originalbrandstempels ausgeführt mit Blindenschrift Braille und Pyramidenschrift.
Taktiler Etagenplan für blinde und sehende Besucher:innen im Kölnischen Stadtmuseum
Konsole mit C-Text in Pyramidenschrift und Blindenschrift und taktile Umsetzung eines Gelben Sterns als Replik
Braillebeschriftung an zugänglichem Exponat für alle.
Das Kölnische Stadtmuseum schreibt:
Ein Stadtmuseum für alle
Bei der Neukonzeption der Dauerausstellung waren Inklusion und Barrierefreiheit zentrale Ziele. Sowohl bei der räumlichen Gestaltung als auch bei der inhaltlichen Vermittlung orientierte sich das Museumsteam dabei an zeitgemäßen Standards, um allen Menschen einen unvergesslichen Museumsbesuch zu ermöglichen. Die Ausstellungsbereiche sind durchweg barrierefrei erreichbar. Blinde und sehbeeinträchtigte Personen werden über eine Blindenspur zu wichtigen Objekten und Inhalten geführt. Bei einigen ausgewählten Exponaten gilt für sehbeeinträchtigte Menschen explizit: „Anfassen erlaubt!“ Darüber hinaus wurden für Besucher*innen mit Seheinschränkungen zahlreiche „Hands-on“-Stationen konzipiert. Alle Haupttexte in der Ausstellung sind zusätzlich in Braille-Schrift angelegt. Darüber hinaus gibt es taktile Grafiken; auch das beliebte Stadtmodell macht mit einem haptischen Vermittlungselement die Topografie des mittelalterlichen Köln erlebbar. Der MultiMedia-Guide bietet zahlreiche weitere barrierefreie Funktionen.
Quelle: Pressemitteilung Kölnisches Stadtmuseum vom 22. März 2024
Mehrschichtiges Schiebemodell der Stadtentwicklung Kölns als taktile Grafiken mit Braillebeschriftung ausgeführt
A-Text in Braille und Bodenleitsystem
Ausgearbeitet mit taktil erweiterter Grafik auf dem Etikett der Flasche sowie C-Text in Braille
Vor dem Gemälde an der Wand wurde eine Konsole mit einer taktilen Umsetzung und einem erklärenden Text in Braille platziert.
C-Text in Braille und Pyramidenschrift an Schiffsmodell
Taktiler Etagenplan für blinde und sehende Besucher:innen im Kölnischen Stadtmuseum
C-Text in Blindenschrift und Pyramidenschrift an Exponat eines Holzreliefs
Braille und Pyramidenschrift an taktilen Gebäudemodellen
Dienstag: 10 bis 20 Uhr, Mittwoch bis Sonntag: 10 bis 17 Uhr, 1. Donnerstag im Monat: 10 bis 22 Uhr (außer an Feiertagen), An Feiertagen (wie Karfreitag o. Ostermontag): 10 bis 17 Uhr
Wenn Linda P. mit ihrem Mann und den Kindern ins Kölnische Stadtmuseum geht, dann durchlaufen sie das Haus als Gruppe, erzählen und weisen hin, diskutieren und ergänzen ihr Wissen zu jedem Bereich und Aspekt der Ausstellung. Sie stellen sich Fragen und tauschen Gelerntes aus.
Spielt es eine Rolle, ob Linda blind ist oder nicht? Es spielt im Kölnischen Stadtmuseum keine Rolle, weil jedes thematisierte Gebiet in verschiedener Weise mit vergleichbarer Informationstiefe und Objektangebot ausgestattet ist. Es spielt aber in den anderen Museen eine Rolle, wenn Linda zu nur wenigen, meist monothematischen »Inklusionsstationen« geleitet wird, die, wie Linda dann merkt, eigentlich für ihre Exklusion sorgen. Sie hat nämlich von der eigentlichen Ausstellung und ihrer Familie nichts mitbekommen.
Auf diesem Foto ist ein Mehrwertexponat für alle zu sehen. Das nur optisch zugängliche historische Stadtmodell (links im Bild) wird viel interessanter und lehrreicher durch die didaktische Aufbereitung über verschiedene übereinander verschiebbaren Ebenen (Topografie, Stadtentwicklung, wichtige Gebäude, urbane Struktur). Die sind neben den Modellen der wichtigen Gebäude natürlich taktil lesbar. Diese didaktische Aufbereitung ist erst der Schlüssel zum Vermittlungsziel für alle Besuchenden.
Und daher jetzt am Schluss die Gretchenfrage: Was also kostet #Inklusion im Museum?
Es kostet die Investition in gute didaktische Konzeption (die natürlich inklusiv denkt) und bringt oft nicht nur einen Mehrwert, sondern überhaupt erst den Nutzwert für manches Exponat, das sonst für die Mehrheit der Besuchenden unerschlossen bliebe. Übrigens: Linda P. und ihre Familie wären ohne die inklusive Konzeption der Ausstellung gar nicht gekommen, weil sie natürlich den Tag gemeinsam erleben wollen.
Ein Multimediaguide erschließt für Interessierte weitere Hintergründe und die Textversion in Gebärdensprache. Das Inklusionskonzept des Museums, die taktilen Umsetzungen und das Bodenleitsystem stammen von Steffen Zimmermann, die Ausstellungsgestaltung von @neostudio.berlin,